Die Dezentralisierung des Stromnetzes: Eine große Herausforderung für Netzbetreiber

Eine große Herausforderung für Netzbetreiber

Während die Energiewende in der Schweiz und in Europa an Fahrt aufnimmt, stehen die Verteilnetzbetreiber (VNB) vor einem beispiellosen Umbruch.
Die Dezentralisierung des Stromnetzes, angetrieben durch das Wachstum erneuerbarer Energien und eine sich wandelnde dezentrale Verbrauchsstruktur, verändert die Spielregeln grundlegend. Diese Transformation ist zwar essenziell für eine nachhaltige Zukunft, bringt jedoch zahlreiche technische und finanzielle Herausforderungen mit sich.

Darstellung des Paradigmenwechsels von einem zentralisierten zu einem dezentralisierten Netz.

Ein neues Paradigma: Die Dezentralisierung des Netzes

Das zentralisierte Modell des Stromnetzes, bei dem Elektrizität in großen Kraftwerken erzeugt und über Hunderte von Kilometern transportiert wurde, gehört zunehmend der Vergangenheit an.
Heute ist die Stromerzeugung lokaler und stärker verteilt. Im Netz der Société des Forces Électriques de la Goule (SEG) ist diese Entwicklung besonders deutlich sichtbar. So hat sich die Anzahl der Solaranlagen in den letzten vier Jahren verdoppelt, und im Jahr 2023 deckte die Solarproduktion etwa 10 % des Stromverbrauchs.

Entwicklung der Anzahl der an das SEG-Netz angeschlossenen Solarkraftwerke in den letzten Jahren.

Diese Entwicklung verändert die Netzbewirtschaftung grundlegend.
Die früher unidirektionalen Stromflüsse werden bidirektional, was die Verteilnetzbetreiber (VNB) dazu zwingt, ihre Infrastruktur vollständig neu zu überdenken. Darüber hinaus erhöht die intermittierende Natur der erneuerbaren Energien, obwohl sie für die Energiewende unerlässlich ist, die Komplexität des Systems. Ein vorbeiziehendes Wolkenfeld lässt die Solarproduktion plötzlich einbrechen; der Wind flaut ab, und die Windkraft schwächt sich ab. Die VNB müssen in Echtzeit reagieren, um Angebot und Nachfrage auszugleichen – andernfalls gerät das Netz ins Wanken. Die Netzstabilität wird somit zu einer zentralen Herausforderung.

Ein sich wandelnder Stromverbrauch

Die Dezentralisierung betrifft nicht nur die Energieerzeugung.
Auch der Stromverbrauch verändert sich, insbesondere durch die zunehmende Verbreitung von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen, die die bisherigen Verbrauchsmuster grundlegend verändern.

Elektromobilität: Das Wachstum der Elektrofahrzeuge bringt eine neue Dimension der Herausforderung mit sich.
In der Schweiz wächst die Zahl der Elektroautos stetig, mit einem Verkaufsanteil von über 20 % der Neuzulassungen im Jahr 2023. Diese neue Nachfrage nimmt nicht nur zu, sondern ist auch dezentralisiert: Ladestationen entstehen zunehmend in Wohngebäuden, Büros und im öffentlichen Raum. Dies zwingt die Verteilnetzbetreiber (VNB) dazu, unvorhersehbare Lastspitzen zu bewältigen – insbesondere am Abend, wenn die Fahrzeuge aufgeladen werden.

Die Anzahl der Elektrofahrzeuge soll von 70.000 im Jahr 2020 auf 3,6 Millionen im Jahr 2050 steigen.

Wärmepumpen: Gleichzeitig verändert die zunehmende Verbreitung von Wärmepumpen, gefördert durch Dekarbonisierungsmaßnahmen, die Verbrauchsprofile erheblich.
In der Schweiz ist die Anzahl der Wärmepumpeninstallationen in den letzten Jahren stark gestiegen, mit über 30.000 neuen Anlagen pro Jahr. Diese Systeme ersetzen herkömmliche Heizkessel und verbrauchen insbesondere im Winter konzentriert Strom, was zusätzliche Herausforderungen für das Lastmanagement der Netzbetreiber mit sich bringt.

Die Anzahl der Wärmepumpen soll von 350.000 im Jahr 2020 auf 1,5 Millionen im Jahr 2050 steigen.

Das Puzzle der Netzkosten

Angesichts dieser neuen Herausforderungen bleibt den Verteilnetzbetreibern (VNB) keine andere Wahl, als massiv in die Modernisierung ihrer Infrastruktur zu investieren.
In der Schweiz schreitet die Einführung intelligenter Zähler rasant voran, mit dem Ziel, bis 2027 80 % der Haushalte abzudecken. Obwohl diese Entwicklungen notwendig sind, bringen sie erhebliche Kosten mit sich.

Diese Maßnahmen sind jedoch nicht nur Ausgaben, sondern eine Investition in die Zukunft.
Durch die Modernisierung des Netzes können die Verteilnetzbetreiber (VNB) einen höheren Anteil an erneuerbaren Energien integrieren und eine zunehmend dezentralisierte Stromnachfrage effizienter steuern.

Dies stellt somit eine weitere große Herausforderung für die Struktur der Netzkosten dar.
Die netzbezogenen Kosten machen einen erheblichen Anteil am Strompreis aus. Mit dem Aufschwung der Eigenverbrauchsmodelle und dezentralen Erzeugungssysteme verringern jedoch immer mehr Verbraucher ihre Abhängigkeit vom Netz, während sie es weiterhin als Backup-Lösung nutzen.

Der Backup-Effekt: Auch wenn eine Region oder ein Haushalt dank erneuerbarer Energien teilweise autonom wird, bleibt das Stromnetz als Backup unverzichtbar – insbesondere in Zeiten geringer Erzeugung.
Sinkt jedoch das über das Netz transportierte Stromvolumen, bleiben die Fixkosten für Wartung, Modernisierung und Netzmanagement weiterhin hoch. Die Stromtarife müssen sich daher an diese neue Art der Netznutzung anpassen.

Der Swiss Energypark: Ein lebendiges Labor für die Energiezukunft

Um diese Herausforderungen zu untersuchen und tragfähige Lösungen zu evaluieren, positioniert sich der Swiss Energypark als einzigartiges Test- und Simulationsumfeld in der Schweiz.
Mit einer jährlichen Autonomie von über 80 % ist er eine ideale Pilotregion, um die Auswirkungen eines Energiemixes zu erforschen, der überwiegend auf erneuerbaren Energien basiert.

Diesen Herbst beginnt das französisch-schweizerische Forschungsprojekt Boucl’ENER, das von der Eidgenossenschaft sowie den Kantonen Bern und Waadt unterstützt wird. Ziel des Projekts ist es, verschiedene Erfahrungen mit Zusammenschlüssen von Verbrauchern und Prosumenten (Verbraucher und Produzenten) innerhalb von Gemeinschaften zu vergleichen, die darauf abzielen, den Anteil lokal erzeugter und verbrauchter Energie zu erhöhen.

Auf Schweizer Seite ermöglicht die positive Abstimmung vom 9. Juni 2024 zur Änderung des Elektrizitätsgesetzes die Entwicklung lokaler Elektrizitätsgemeinschaften (CEL). Das Projekt Boucl’ENER hat zum Ziel, jene Konfigurationen zu identifizieren, in denen ein Zusammenschluss im Hinblick auf den Eigenverbrauch sinnvoll wäre.

Eine digitale Simulation dieser Zusammenschlüsse wird im Netz der SEG entwickelt. Diese ermöglicht die Bewertung des Eigenverbrauchspotenzials sowie die Analyse der Mechanismen und Einschränkungen bei der Steuerung des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage innerhalb dieser Gemeinschaften. Darüber hinaus wird die Simulation die Auswirkungen dieser Zusammenschlüsse auf das Stromnetz aufzeigen, insbesondere in Bezug auf die Tarifgestaltung.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Dezentralisierung des Stromnetzes weit mehr als nur eine technische Entwicklung ist. Sie stellt einen tiefgreifenden Wandel in der Art und Weise dar, wie Strom erzeugt, verteilt und verbraucht wird. Für die Netzbetreiber (GRD) bringt dieser Umbruch erhebliche Herausforderungen mit sich – sowohl in Bezug auf die Kostenverwaltung als auch auf die Sicherstellung der Versorgungssicherheit und Effizienz der Stromversorgung.

Letztendlich wird der Schlüssel zum Erfolg darin liegen, dass die Netzbetreiber (GRD) ihre Geschäftsmodelle anpassen, in resiliente Infrastrukturen investieren und eng mit den Verbrauchern zusammenarbeiten, um eine nachhaltige und erschwingliche Energiezukunft zu gewährleisten.

Laurent Raeber, Direktor des Swiss Energypark und der Gesellschaft Mont-Soleil